Jeder zehnte Asylantrag in Österreich wird mittlerweile von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. Das stellt Betreuer und Behörden vor neue Herausforderungen: Denn oft werden die Kinder auf der Flucht benutzt und verschickt.
Das Thema Asyl habe in Österreich eine neue Gestalt angenommen, sagt Ruth Schöffl, Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR: jene von Kindern und Jugendlichen auf der Flucht.
Zum Teil habe das mit der Flüchtlingsunterbringungskrise zu tun, die Minderjährige besonders hart trifft. Im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen harren trotz Asylgipfels vergangenen Dienstag rund 560 unter 18-Jährige aus - unter ihnen auch weiterhin rund ein Dutzend unter 14-Jährige. Meist sind es Burschen aus Afghanistan, die sich ohne Angehörige nach Mitteleuropa durchgeschlagen haben und jetzt ohne adäquate Betreuung und Chance auf Schulbesuch dastehen.
Asylwerber werden immer jünger
Doch auch abgesehen von der Beherbergungsnot wegen der unzureichenden Grundversorgungsvereinbarung, die zur Jugendlichen-Massenansiedlung im Lager geführt hat und den Blick der Öffentlichkeit auf sich lenkt: Fakt ist, dass inzwischen rund jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling (UMF) gestellt wird, mit steigender Tendenz (siehe Grafik). Die Frage nach den Gründen beschäftigt Verantwortliche und Medien.
"Seit Anfang 2012 beobachten wir, dass die neu hinzukommenden UMF jünger werden", sagt im Innenministerium etwa Hilbert Karl, Leiter des Referats Asyl und Betreuung. Immer öfter würden auch unter 14-Jährige aufgegriffen oder tauchten bei der Polizei oder in Traiskirchen auf, um Asyl zu beantragen: Afghanen, aber auch Pakistani und Somalier.
Mehr Chance auf Verbleib
Daraus, so Karl, sei zu schließen, "dass die Schlepper reagiert haben". Denn: "Je jünger ein unbegleiteter Jugendlicher ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass er bleiben kann." Auch wenn inhaltlich im Asylverfahren für ihn die gleichen Kriterien wie für Erwachsene gelten, so gebe es für Minderjährige doch "Verfahrensgarantien", sodass sie etwa seltener innerhalb der EU laut der Dublin-II-Verordnung zurück in ihre Heimatländer geschoben würden.
Die Frage, ob er annehme, dass diese Kinder mit dem Kalkül geschickt würden, später ihre Eltern und Geschwister nachzuholen, also sogenannte Ankerkinder seien, beantwortet Karl mit einer statistischen Zahl. 2011 habe es in Österreich "rund 1000 Familienzusammenführungen" gegeben. Doch diese hätten fast nur Ehefrauen und Kinder erwachsener Ausländer betroffen, erwidert Heinz Fronek, Experte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bei der Asylkoordination.
Keine genauen Statistiken
"Ich habe 2011 einen Rundruf bei allen UMF-Unterbringungseinrichtungen gemacht. Dabei kam ich auf 17 Fälle von geglückter Familienzusammenführung auf Initiative von Jugendlichen", schildert Fronek. Die offizielle Statistik weise nicht aus, wer den Zusammenführungsantrag gestellt habe. Im Ministerium bestätigt Karl dies auf Rückfrage hin.
In einer Studie des UN-Kinderhilfswerks Unicef vom Februar 2012 ("Children on the Move"), die auf die Flucht junger Afghanen fokussiert, ist das Motiv, die Familie nachzuholen, eines von fünf, die von Familienmitgliedern bei Interviews angegeben wurden.
Sonstige Gründe für die oft lebensgefährliche Reise der Kinder und Jugendlichen: der Wunsch nach Sicherheit, der Zwangsrekrutierung durch die Taliban und andere Gruppen zu entgehen, eine Ausbildung zu machen, um der Familie später aus dem Ausland helfen zu können. Auch das Motiv "Abenteuerlust" kam vor: an letzter Stelle. (DER STANDARD)