Flüchtlingsschicksal: Wie der 17-jährige Gurbat mutterseelenallein von Pakistan nach Ulm kam

An Gurbat ist nichts Auffälliges. Er ist 17 Jahre alt, schlank, fast zartgliedrig, brauner Teint, trägt eine Basecap, er sieht aus wie einer dieser Jungs, die man am Universum Center oder Bahnhofsvorplatz antrifft. Gurbat hat einen wachen Blick, er kann verschmitzt lächeln.

Es ist nicht leicht, ihn zu verstehen, wenn er in seiner Pakistani-Intonation diesen Mischmasch aus deutschen und englischen Wörtern spricht. Er sagt, er will nicht, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. Könnte sein, dass die Leute dann Mitleid mit ihm haben. Bloß das nicht.
Gurbat ist weit herumgekommen. Das liegt ihm gewissermaßen im Blut. Er kommt aus einer pakistanischen Nomadenfamilie, und wenn er sagt, er wisse nicht, wer seine Eltern sind, dann muss man nachfragen, weil das eigene Familienbild mitteleuropäisch geprägt ist. Seine Familie war eine Sippe. 50 Erwachsene und Kinder, die in Jurten lebten und von Ort zu Ort zogen. Wenn Gurbat sich an seine damaligen Altersgenossen erinnert, dann nennt er sie alle Cousins und Cousinen. Die Erwachsenen waren demnach Onkel und Tanten.
Als Gurbat acht war, haben sie ihn verkauft. Die Armut zu groß, der Esser zu viele. Wie viel Geld die Familie für ihn bekommen hat, weiß er nicht. Er kam als Landarbeiter zu einem Bauern, half bei der Reis-Ernte, molk die mageren Kühe. Manchmal war es ein Zwölfstundentag, manchmal ein Sechzehnstundentag. Nicht, dass es ihm schlecht ging. Er hatte einen Schlafplatz, bekam ausreichend zu essen, verdiente 60 bis 80 Dollar im Monat und durfte sich nach getaner Arbeit frei bewegen.
Acht Jahre ging das so, dann beschloss er abzuhauen. Gurbat sagt, der Bauer sei böse auf ihn gewesen, habe ihn geschlagen, ihm mit dem Tod gedroht. Es hatte, so erzählt eine Betreuerin später, wohl etwas mit der Tochter des Bauern zu tun. Unklar bleibt, was da genau gelaufen ist. Hatte er dem Mädchen schöne Augen gemacht? Waren sie ein Paar? Gurbat kam bei einem Freund in der Millionenmetropole Karachi unter. Dauerhaft konnte er dort nicht bleiben. Er wollte ohnehin weg, am liebsten nach England, wie er sagt. Die 2000 Dollar für einen Schlepper, der ihn nach Europa schleusen sollte, seien größtenteils von dem Freund gekommen, erzählt er. Es gibt bei solchen Geschichten immer Punkte, an denen man misstrauisch wird. Aber welches Recht hat man aus satter europäischer Perspektive, den Schilderungen Gurbats keinen Glauben zu schenken?
Es war Nacht, als er in das im Hafen von Karachi liegende Containerschiff gebracht wurde. Acht Tage dauerte die Fahrt, schätzt er. So genau weiß er das nicht, er war unter Deck. Zu essen gab es Kekse. Dann wurde er an Land gebracht, ein Auto wartete schon. Gurbat musste sich hintern Fahrersitz kauern. Er war der einzige Passagier. Die Fahrt dauerte 16, 17 Stunden. Vom Fahrer sah und hörte er nicht viel. Immerhin bekam er zu essen und zu trinken. Als Gurbat einmal den Kopf emporstreckte, schlug der Mann ihm mit dem Griff eines Schraubenziehers auf den Kopf, unmissverständlicher Befehl, unten zu bleiben.
Dann ließ er ihn raus. "Sind wir in England?", fragte Gurbat. "Go, go!", sagte der Mann und fuhr weg. Da stand er nun an einem Oktoberabend im Jahr 2011, ohne Gepäck, ohne Geld, nur mit der Kleidung, die er am Leib trug. Er machte sich auf den Weg ins in Sichtweite liegende Städtchen, sah den Bahnhof, stieg in den nächstbesten Zug ein. Kurz vor Ulm kam der Schaffner. Es war das Ende einer langen Reise.
Die Bundespolizei am Hauptbahnhof verhörte ihn eine Stunde lang, dann informierten die Beamten das Jugendamt. Im Behördendeutsch ist Gurbat ein UMF, ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Anders als Erwachsene wird er nicht im Asylbewerberheim untergebracht, für ihn greift das System der Jugendhilfe.
Seit fünf Monaten lebt Gurbat in einer Wohngruppe des Oberlin-Hauses, gemeinsam mit einem gleichaltrigen tunesischen Bootsflüchtling, einem jungen Marokkaner und einem Somalier. Das Ergebnis des Handwurzelgutachtens, das klären soll, ob er ausgewachsen ist, steht noch aus. Sollte sich herausstellen, dass er schon 18 oder sogar älter ist, kommt er nach Karlsruhe zur Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge. Ist er ein Jugendlicher im Sinne des Gesetzes, genießt er besonderen Schutz: Er darf nicht abgeschoben werden, selbst wenn sein Asylantrag abgelehnt wird.
Ob Gurbat dauerhaft in Deutschland bleiben darf? Das hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut er sich integriert. Vormittags geht er in eine Vorbereitungsklasse, um Deutsch zu lernen - Voraussetzung, um vielleicht einmal den Hauptschulabschluss zu machen. "Er hat in den letzten Wochen Riesenfortschritte gemacht", sagt Eveline Wolf, Bereichsleiterin der Wohngruppen des Oberlin-Hauses. "Die Jungs bringen viel an Selbstständigkeit mit." Oft fehle ihnen aber der richtige Blick, etwa was den Umgang mit Frauen angeht.
In seiner Freizeit geht Gurbat "spazieren und gucken", wie er es nennt. Das Leben in der Wohngruppe ist geregelt. In der Woche muss er um 22 Uhr zuhause sein, es gibt 44 Euro Taschengeld im Monat. Manchmal unternehmen Mitglieder des Flüchtlingsrats kleine Ausflüge mit ihren Schützlingen. Oder man kocht gemeinsam. Am liebsten schaut Gurbat "BBC-World News" und "Alarm für Cobra 11".
Er hat kein Heimweh, sagt er. Pakistan ist kein Thema. Abgehakt. Er will in Deutschland bleiben, am liebsten in der Landwirtschaft arbeiten. "Der ist ein richtiger Schaffer", sagt Eveline Wolf. Beim Umzug des Oberlin-Hauses habe Gurbat die schwersten Kisten geschleppt, wie wenn da nichts drin wäre.
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