Aus der Hölle in die Warteschleife


Ein siebenjähriges Mädchen aus Afghanistan, allein, nur die Muttersprache in einem besonderen Dialekt beherrschend, entdeckt von der Bundespolizei im Zug am Rosenheimer Bahnhof:
Dies war der erschütterndste Fall eines unbegleiteten Flüchtlingskindes, den das Stadtjugendamt Rosenheim heuer lösen musste. Die Versorgung der Minderjährigen, die auf der Flucht aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens in Rosenheim stranden, stellt zunehmend eine Herausforderung dar.

Rosenheim - Im Kinderheim "Schöne Aussicht" ist stets ein Zimmer für sie hergerichtet. Nachts und am Wochenende kommen sie hier in der Regel an - hungrig, übermüdet, verängstigt nach einer oft wochenlangen Flucht durch Europa. In der offiziellen "Inobhutnahmestelle" der Stadt erhalten die Jugendlichen nach Angaben von Leiterin Wilhelmine Hansen in der Regel zum ersten Mal eine kindgerechte Versorgung: "Sie freuen sich über ein sauberes Bett, etwas zu essen, wollen sich waschen und schlafen, schlafen, schlafen", berichtet sie.

Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe

Welche Strapazen die Jugendlichen hinter sich haben, ob sie das Heimweh plagt oder die Erinnerung an traumatische Erlebnisse auf der Flucht: Davon erfahren die Betreuer im Kinderheim, das von der Stiftung St. Zeno betrieben wird, in der Regel erst dann, wenn sich die Flüchtlingskinder ein wenig eingelebt und Vertrauen gefasst haben, zum Heimpersonal und zu den Vormündern, die das Stadtjugendamt für ihre persönliche Betreuung bereitstellt.
Hamon Tanin vom 2010 gegründeten Initiativkreis Migration Rosenheim weiß aus intensiven Gesprächen mit den jungen Flüchtlingen, welche Torturen sie hinter sich haben. Sie kommen häufig aus Afghanistan, dem Iran sowie Syrien und versuchen in der Regel über Griechenland und Italien Richtung Deutschland und Nordeuropa zu gelangen, wo sie sich ein Bleiberecht und die Chance auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit erhoffen. "Sie leben während der Flucht auf der Straße, verstecken sich in Containerschiffen, springen auf Lkw auf, ernähren sich aus dem Abfall, geraten in Abhängigkeit von Menschenschmugglern", berichten die Mitglieder des Initiativkreises. Unterwegs auf der Flucht erleben viele die Hölle. Schläge, Tritte, sexuelle Übergriffe gehören zum Alltag.
Erstversorgungsplätze zur Verfügung stehen und auch eine Anschlussbetreuung in den Wohngruppen möglich ist, kommen die Flüchtlingskinder, meistens Buben, endlich zur Ruhe. Sie werden ärztlich untersucht, und es wird abgeklärt, ob es eventuell Angehörige in Deutschland gibt. Aufgebaut wird ein geregeltes Leben mit festen Strukturen, samt Sprachkurs und Schulbesuch, in der Regel in Fürstätt. Der rechtliche Status ist zu klären. Damit ist auch die Frage einer Arbeitserlaubnis, notwendig für eine Ausbildung, eng verbunden.

"Sie wollen lernen und ihren Platz finden"

Die minderjährigen Flüchtlinge besitzen zur Freude von Wilhelmine Hansen "einen hohen Integrationswillen". Der größte Wunsch der Jugendlichen: "Sie wollen bleiben und all das, was auch Deutsche wünschen: Schulabschluss, Lehre, Wohnung, Arbeit, Auto, Freunde."
Auch Gerd Rose, Leiter des Rosenheimer Jugendamtes, spricht von "fitten, braven, angepassten jungen Leuten", die "lernen und ihren Platz in unserer Gesellschaft finden wollen".
Die Startvoraussetzungen sind jedoch unterschiedlich: Im Kinderheim "Schöne Aussicht" stranden gut gebildete Jugendliche aus wohlhabenden Familien ebenso wie solche, die bisher nur eine Koranschule besucht haben und ohne feste Strukturen sich selbst überlassen aufgewachsen sind. Der Initiativkreis Migration widerspricht der Annahme, die minderjährigen Flüchtlinge kämen ausschließlich aus wohlhabenden Kreisen, die sich die Zahlung der Fluchthilfegelder - immerhin 10000 bis 15000 Euro - leisten könnten und dass sie vor allem aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verließen. Hamon Tanin als Sprecher des Kreises sagt, viele Jugendliche würden aus eigenem Entschluss flüchten, aus Verzweiflung über die Kriegssituation in der Heimat, auf der Suche nach Freiheit und Sicherheit oder aus dem Bedürfnis heraus, die zurückgebliebene Familie daheim von der Fremde aus zu unterstützen. Diese Kinder und Jugendlichen benötigten individuelle Hilfe. In Deutschland aufgegriffen, würden sie stattdessen die Folgen einer restriktiven Asylpolitik erleben, die sie in eine unbefriedigende Warteschleife auf Anerkennung und Bleiberecht sowie Arbeitserlaubnis zwinge, mit der Gefahr, abgeschoben zu werden.
Der Initiativkreis fordert in diesem Zusammenhang die Intensivierung der Bemühungen um eine "Clearingstelle", die sich speziell der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge annimmt. Sie bräuchten nicht nur einen "Ruheplatz", sondern auch eine schnelle Beratung rund um ihre aufenthaltsrechtlichen Fragen sowie ihre Zukunftsperspektiven und eine psychische Betreuung durch speziell ausgebildete Fachkräfte.
Auch Wilhelmine Hansen sieht die Notwendigkeit, dass Standards formuliert werden, die die individuelle Betreuung und Eingliederung definieren. Tanin bedauert, dass es nach wie vor Problematiken wie die Kollision von Ausländerrecht und Sozialgesetzbuch gibt. Ab 16 würden jugendliche Flüchtlinge wie Erwachsene behandelt und in der Erstaufnahmeeinrichtung, der Bayernkaserne in München, untergebracht. In der Massenunterkunft sei es bereits zu Hungerstreiks von Jugendlichen und Suizidversuchen gekommen. Viele ältere Jugendliche würden deshalb versuchen, ihr wahres Alter zu verheimlichen. Oft werde ihr Alter über Röntgenuntersuchungen der Handwurzelknochen bestimmt. Tanin nennt dies "entwürdigend". Er weiß von Jugendlichen, die vor ihrer Flucht schwer körperlich gearbeitet haben und deren Hände keine Auskunft über das wahre Alter geben. Der Initiativkreis befürchtet, dass viele Jugendliche weiterflüchten und damit wieder unfreiwillig in die Fänge von Menschenschmugglern geraten.

Die Siebenjährige ist jetzt bei Verwandten

Um das siebenjährige Mädchen aus Afghanistan kümmerten sich zwei Leute vom Stadtjugendamt zwei Tage lang rund um die Uhr, mit Unterstützung einer Pflegefamilie. Alle haben sich jedoch sehr schwer getan, weil das Mädchen nur einen afghanischen Dialekt sprach. Dann wurde der richtige Dolmetscher gefunden, der Kontakte zu Verwandten in Norddeutschland möglich machte. Ihnen wurde das Kind übergeben.
Oberbayerisches Volksblatt
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