Wenn Ali* mit seinen Eltern telefoniert, lügt er. Dann erzählt er von dem schönen, sicheren Leben, das er in Deutschland hat, und dem Haus, in dem er wohnt. Er will nicht, dass sie sich Sorgen machen. Alis neues Zuhause in München ist eine frühere Kaserne hinter Stacheldrähten am Stadtrand. Nachts kann er nicht Schlafen. Die Wachmänner seien dann oft betrunken, die Polizei kontrolliere mit Hunden.
Ali ist 17. Ein Jugendlicher. Doch eine Jugend hat der magere Junge mit den akkurat gescheitelten Haaren nie gehabt. Als sein Dorf in Afghanistanvon Taliban-Sympathisanten überfallen wurde, ist seine Familie nach Iran geflohen. Jahrelang lebten sie dort illegal, irgendwann gaben seine Eltern Schleppern Geld. Wenigstens der Sohn sollte in die Schule gehen, sollte studieren, sollte ein sicheres Leben haben.
Als der damals 16-Jährige in München ankommt, will er Deutsch lernen, in die Schule gehen. Du musst warten, haben sie ihm gesagt. Fünf Monate hat Ali nichts getan außer gewartet. "Ich dachte, wenn wir Deutschland erreichen, haben wir ein Leben", sagt er. "Kein gutes Leben, aber ein normales Leben."
Mindestens 4500 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erreichten allein 2011 Deutschland, schätzt der Bundesverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge. Etwa 900 werden derzeit in München betreut, Ali ist einer von ihnen. Gemeinsam mit rund 130 anderen Jugendlichen lebt der Afghane in der Bayern-Kaserne in Freimann. Vier Jungs teilen sich ein Zimmer, es gibt vier Betten, vier Stühle, einen Tisch, erzählt Ali. Mehr gibt es nicht.
Weil über Monate kein Platz für ihn im Deutschkurs war, hat er Bücher von den anderen Flüchtlingen unter seinem Kopfkissen gehortet, hat sich die Sprache selbst beigebracht. Im Januar haben Ali und 60 weitere Jugendliche aufgehört zu essen. Zwei Wochen hielten sie den Hungerstreik durch, 20 von ihnen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Sie hungerten für mehr Deutschkurse, für mehr Betreuer, einen Bibliotheksausweis. Nun gibt es einen Deutschkurs mehr. Und ein größeres Zimmer für die Betreuer. "Aber mehr Betreuer gibt es nicht", sagt Ali. Auf seinen Bibliotheksausweis wartet er noch immer.
"Ein Jahr ist einfach weg, verloren"
In der alten Kaserne war einst die Wehrmacht untergebracht, dann die US-Armee und schließlich die Feldjäger und Panzergrenadiere. Nun stehen die Gebäude leer, Fenster sind zerbrochen, nur ein Haus dient der Regierung von Oberbayern als Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge.
Wenn das Jugendamt einen Jugendhilfebedarf festgestellt hat, haben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung. Doch in München fehlt es an Plätzen und so leben viele wie Ali schon seit Monaten in der Kaserne. "Ein Jahr ist einfach weg, verloren", sagt er. Wenn er wählen könnte, würde er zurück nach Iran gehen. Aber das kann er nicht, bis zu sieben Jahre kann es dauern, bis sein Asylantrag bewilligt wird. Wird er abgeschoben, muss er nach Afghanistan. Er hat dort niemanden mehr. "Wenn ich zurück muss, werde ich sterben. Dann töte ich mich lieber hier", sagt Hussein*.
Auch er ist 17, auch er kommt aus Afghanistan, auch er lebt seit Monaten in der Bayern-Kaserne. "Als ich den Stacheldraht und die Securitys gesehen habe, dachte ich, ich komme ins Gefängnis", sagt er. Sein Deutsch ist schlecht, Ali muss für ihn übersetzen. Hussein erzählt von seiner gefährlichen Flucht, von der Angst, es nicht nach Europa zu schaffen. "Wenn ich anfangen würde über meine Probleme zu reden, würde das Monate dauern."
Viele der jugendlichen Flüchtlinge in der Kaserne seien traumatisiert, weinten jede Nacht. Ali und Hussein weinen nicht, als sie ihre Geschichte bei einem Treffen beim Bayerischen Flüchtlingsrat erzählen. "Wir wollen doch nur, dass uns endlich jemand ernst nimmt. Wir sind doch noch so jung", sagt Ali.
Flüchtlinge treten in den Kammerspielen auf
Zum Abendessen können die Jungs in der Kaserne zwischen Tiefkühlpizza und Gefrierhähnchen aus Essenspaketen von der Regierung wählen, erzählt Ali. Dabei gebe es weder eine Gefriertruhe noch einen Ofen. Die Pizza machen sie deshalb in der Pfanne. Auch die Duschen funktionierten nicht richtig. Er findet das nicht schlimm. Schlimm findet er, dass es keine professionelle Hilfe gibt, niemand, mit dem er reden kann.
Ein Betreuer muss sich in der Bayern-Kaserne um mindestens zehn Jugendliche kümmern, nachts ist oft nur der Security-Dienst da. Zudem wird jedem Jungen ein Vormund zugewiesen. Ali hat seinen drei Mal gesehen. Der Vormund hat ihm erklärt, er sei so etwas wie sein neuer Vater. Er hat ihn zu dem Gespräch mit der Asylbehörde begleitet, dann hat Ali nichts mehr von ihm gehört. "In unserer Heimat hatten wir viele Probleme", sagt er. "Aber hier haben wir mehr Probleme."
Am Donnerstag tritt Ali mit Hussein und acht weiteren Jugendlichen aus der Kaserne in den Kammerspielen auf. Dort wollen sie Texte und Gedichte über ihre Heimat vorlesen, mit Politikern und dem Jugendamt diskutieren. Darüber, ob eine Kaserne ein kindergerechter Ort ist. Und warum sie so lange auf einen Deutschkurs warten müssen. Ob sein Leben danach endlich beginnt, weiß Ali nicht. Viel Zeit hat er nicht mehr, in wenigen Monaten wird er 18, dann fällt er nicht mehr unter das Kinder- und Jugendschutzgesetz, sein Anspruch auf einen Platz in einer Jugendhilfeeinrichtung verfällt.
Vielleicht hat er Glück. Der Tag mit allen Chancen, von denen sie immer geträumt hatten - für manche Jugendliche aus der Kaserne ist er gekommen. Doch nicht alle haben ihn dann auch genutzt. Nach Monaten des Wartens hatten sie keine Kraft mehr, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie hatten zu lange gewartet.
Zwei Stühle um mit Dir zu sitzen, ein Abend zur Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in München. Lesung, Interviews, Diskussion. Eintritt frei. Werkraum, Kammerspiele, München, 1. März 2012, 20 Uhr.
Am Samstag, 3. März, 13 Uhr, demonstrieren Flüchtlinge aus ganz Bayern am Stachus gegen die geplanten Abschiebungen nach Afghanistan.
*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert
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